Was mich an Karfreitag schon immer gestört hat…

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Bereits als kleiner Junge habe ich staunend und etwas ängstlich die Darstellungen von Jesus am Kreuz betrachtet und mich gefragt: “Was macht dieser halbnackte Mann dort?” Besonders irritierend war für mich die Ambivalenz der Geschichte. Dieser Jesus soll Kranke geheilt, den Sturm gestillt und sogar Tote auferweckt haben und nun lässt er sich so ganz ohne Gegenwehr von den römischen Soldaten festnehmen? Anstatt im Gericht vehement und laut die Lügen seiner Ankläger zurückzuweisen, schweigt er. Jesus lässt sich verspotten, auspeitschen und hinrichten und hängt schließlich machtlos am Kreuz. Warum ist dieser Jesus so schwach? Warum wehrt er sich nicht? Am Höhepunkt seines Leidens ruft er noch: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Doch Gott greift nicht ein: Jesus stirbt. Kann dieser Mann wirklich Gottes Sohn gewesen sein? Alles aus und vorbei, so denken zumindest die Nachfolger Jesu. Enttäuscht und ängstlich, ein ähnliches Schicksal wie ihr Lehrer zu erleiden, ziehen sie sich zurück. Das hätte das Ende sein können – nur ein weiteres Opfer der römischen Justiz. Jesus wäre im Lauf der Geschichte in Vergessenheit geraten. Doch so endet es nicht. Was zunächst wie eine Niederlage aussieht, verwandelt sich in einen Sieg, wie die Menschheit ihn noch nie gesehen hat. Am dritten Tag – an Ostern – steht Jesus von den Toten auf. Gott hat ihn nicht verlassen – auch wenn es zum Zeitpunkt seines Todes so schien. Gott hat gesiegt. Nicht durch Gegengewalt, sondern durch Liebe.

Das ist so ganz anders, als wir es aus unserer Welt kennen. Dort diktieren die Lauten und Starken, wo es langgeht – vom Kindergarten bis in die Weltpolitik. Doch Gott reiht sich nicht ein in den Wettstreit darum, wer der Größte sei. Er muss niemandem etwas beweisen. Er gebraucht seine Macht nicht, um anderen seinen Willen aufzuzwingen. Vielmehr lädt er ein, durch seine gewinnende Liebe ein, vergibt und beendet jegliche Vergeltung.

Was Christus am Kreuz widerfährt, ist der Gipfel der Ungerechtigkeit: Ein Unschuldiger wird verurteilt, verspottet, gefoltert und brutal hingerichtet. Menschen ermorden Gott am Kreuz – und er wehrt sich nicht. Es folgt keine Vergeltung, keine Gegenmaßnahme. Das Kreuz bleibt stehen und Gott liebt weiter. Der sterbende Jesus spricht Vergebung aus: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das ist keine Schwäche, sondern eine wahre Größe. Gott lebt uns vor, was es heißt, auf Gegenmaßnahmen zu verzichten. Den Teufelskreis von “wie du mir, so ich dir” zu durchbrechen. Gott siegt, ohne seine Feinde mit Gewalt in die Knie zu zwingen. Dafür ist er bereit zu leiden, sich selbst in Jesus Christus hinrichten zu lassen. Seine Liebe überwindet. Die erste Person, die das erkennt, ist der römische Hauptmann, der die Kreuzigung überwacht hat. Als er Jesus sterben sieht, sagt er: „Dieser Mann war wirklich Gottes Sohn.“

Dem Beispiel Jesu zu folgen, zu vergeben, anstatt zu vergelten, bleibt eine Herausforderung - im Umgang mit dem Partner, den Kollegen auf der Arbeit, den Mitschülern… Es fühlt sich nicht immer wie ein Sieg an. Und es geht dabei nicht darum, sich immer klein zu machen, auf das eigene Recht zu verzichten und immer nachzugeben.

Vielmehr geht es um das Vertrauen, dass Gott um alles weiß und die Dinge eines Tages zurechtrücken wird, die meinen Einfluss übersteigen. Es mag drei Tage, drei Jahre oder die Ewigkeit dauern. Der Weg dorthin kann schwierig werden. Wenn Gott seinen eigenen Sohn nicht vor Leid verschont hat, warum erwarten wir es für uns? Zugleich tröstet mich die tiefe Einsicht, die viele Nachfolger Jesu im Laufe der Jahrhunderte gemacht haben, dass Gott gerade dann an unserer Seite steht, wenn wir leiden. Denn er hat selbst gelitten. Am Ende steht Ostern für Gottes Sieg: Dass alle Ungerechtigkeit, alles Leid und selbst der Tod nicht das letzte Wort haben. Heute staune ich über das, was ich als kleiner Junge nicht verstanden habe. Denn es ist nicht so, dass Jesus am Kreuz ohnmächtig ist. Es ist keine Schwäche, dass er sich nicht wehrt. Er ist vielmehr seine Liebe zu uns Menschen, die nicht vergilt, sondern vergibt.

  (Pastor Jens Deiß)